Blog von Äbtissin Christiana Reemts

In unserem Fürbittbuch finde ich notiert: „Wir brauchen den Job. Wir brauchen ein Wunder.“
Wie viel Not mag hinter diesen Sätzen stehen! Ich bete mit und für diesen Menschen um das Wunder, das er braucht, weiß allerdings, dass Gottes Wunder oft anders sind, als wir sie uns vorstellen.
 
In der Bibel wird berichtet, dass Mose das Land, in das er die Israeliten führen sollte, selbst nicht betreten durfte als Strafe für eine Sünde, die nirgends ganz klar wird. Lange Zeit fand ich das hart und traurig. Je älter ich werde, umso besser verstehe ich diesen Text und deute ihn auf die Situation jedes Menschen, mich selbst eingeschlossen. Wir alle leben, indem wir uns auf die Zukunft hin entwerfen. Irgendwann müssen wir gehen und das Land der Zukunft anderen überlassen. Vielleicht dürfen wir es noch von ferne sehen, aber hinein kommen wir nicht mehr. Auch bei uns ist das Folge von Sünde, von dem, was wir Ursprungssünde nennen und wie die Sünde des Mose nicht wirklich begreifen.
Unser Leben ist in Gottes Hand; wir brauchen keine Angst zu haben. Wir werden genau dann sterben, wenn er es will, keine Sekunde früher oder später, egal wie viel Desinfektionsmittel wir verwenden. „Fürchtet euch nicht“, ist einer der häufigsten Sätze in der Heiligen Schrift.
 
In diesem Jahr fühle ich mich besonders erschöpft und das geht vielen Mitschwestern so. Um gut zu leben, brauchen wir es, dass das meiste, das wir tun, eingeübt ist und ohne große Überlegungen abläuft: Jemanden begrüßen, irgendwo entlanggehen, miteinander essen usw. Die Pandemie zwingt uns, Handlungen, die wir bisher, ohne viel zu überlegen, taten, genau zu überlegen: Schade ich einem anderen? Schade ich mir selbst? Schade ich meinen Mitschwestern? Ärgert sich jemand über mich? Muss ich Maske tragen oder nicht? Jeder Schritt ist moralisch aufgeladen und hat etwas mit Verantwortung zu tun; das erschöpft innerlich.
„Er führt mich zur Erholung ans Wasser“. Dieser Psalmvers soll über meinen Ferien stehen. Christus ist auch in den Ferien derjenige, der mich führt und auf den ich hören will. Er will mein Leben, mein Glück und meine Erholung.
Allerdings weiß ich aus Erfahrung, dass ich mich in den Ferien sehr unterschiedlich gut erholt habe. Vor allem gibt es zwei Gefahren:
1.) Man tut Dinge, die einem nicht wirklich gut tun. Oft aus dem Bedürfnis heraus, Möglichkeiten zu nutzen, die im Alltag nicht gegeben sind. Zum Schluss hat man vielerlei getan, aber nichts richtig, und ist  müder und erschöpfter als vorher.
2.) Die andere Gefahr, vor allem wenn man sich sehr ausgelaugt fühlt, ist sich hängen zu lassen, nur zu gammeln und zu schlafen und am Ende eher depressiv als erholt zu sein.
 
In den „Unfrisierten Gedanken“ von Stanislaw Jerzy Lec findet sich der boshafte Satz: „Dass er starb, ist noch kein Beweis dafür, dass er gelebt hat“.
Aber ist dieser Satz überhaupt boshaft oder nur eine sehr hellsichtige Analyse der menschlichen Situation? Nach der Bibel ist Tod geradezu der Normalzustand und wirklich lebendig zu sein das Außergewöhnliche. Im 1. Johannesbrief heißt es: „Wer nicht liebt, bleibt im Tod“ (1 Joh 3,14), was doch wohl bedeutet, dass der Nicht-Liebende tot ist und dass von ihm gilt: „Dem Namen nach lebst du, aber du bist tot“ (Off 3,1).
Wirklich zu lieben, wirklich lebendig zu sein ist eine enorme Aufgabe, bei der man erst im Laufe der Jahre erkennt, dass man dazu einen anderen Geist braucht als den eigenen Verstand. Nur Gottes Geist kann uns lebendig machen und am Leben erhalten. Das ist ein Trost auch in all der Angst, die uns im Moment umgibt: Leben ist mehr als coronafrei zu sein.