Tagebuch (49)
Von Matthias Claudius gibt es ein Gedicht, dessen erste Strophe lautet:
„Ich danke Gott, und freue mich
Wie's Kind zur Weihnachtsgabe,
Dass ich bin, bin! Und dass ich dich,
Schön menschlich Antlitz! habe.“
Der Dichter dankt Gott für die Gnade, ein Mensch zu sein, was sich im Gesicht ausdrückt; nur Menschen haben im eigentlichen Sinn ein Gesicht. Das bezeugen auch viele Redewendungen wie z.B.: „das Gesicht verlieren“; „etwas steht ihm / ihr im Gesicht geschrieben“; „sein wahres Gesicht zeigen“; „ein langes Gesicht machen“; „Gesicht zeigen“.
Es gibt in Deutschland das Vermummungsverbot, wer demonstrieren will, soll Gesicht zeigen. Die Begegnung mit Burkaträgerinnen finden wir unheimlich, weil wir deren Gesicht nicht sehen. Das  Gefühl einer gewissen Bedrohung, von dem ich weiß, dass es irrational ist, empfinde ich auch in diesen Tagen oft, wenn ich Menschen mit Mundschutz begegne. Wenn es Bekannte sind, kann ich es einigermaßen ertragen, ihr Gesicht nicht zu sehen, weil ich es kenne, aber bei Unbekannten finde ich das schwierig. Man weiß oft weder das Geschlecht noch das Alter des Gegenübers. Ich merke erst jetzt, wie viel ich am Gesicht eines Menschen ablas.
Natürlich weiß ich, warum wir Mundschutz tragen, aber ich finde es macht Begegnung schwierig. Oder andersherum: Die Mundschutzpflicht in geschlossenen Räumen erleichtert es mir im Moment, zuhause zu bleiben. Und ich bin dankbar, wenn wir wieder Gesicht zeigen dürfen. Erst jetzt weiß ich, wie viel mir das bedeutet.